BlogbeitragWarum können wir uns nicht erholen, obwohl wir es so dringend brauchen?

Warum können wir uns nicht erholen, obwohl wir es so dringend brauchen?
Was mich Brasilien gelehrt hat und warum wir uns mehr Erholung erlauben und entspannen dürfen.
  • Seit fast drei Wochen bin ich in Brasilien. Es hat ein wenig gedauert, bis mein System sich an das entspannte Tempo gewöhnt hatte. Die kleine Perfektionistin in mir wurde teilweise ganz schön gefordert. Zum Beispiel, auszuhalten, dass es einfach keine geregelte Müllabfuhr gibt. Und über Tage zu erleben, dass es trotzdem funktioniert. Nur eben anders. Nicht deutsch und von offizieller Seite geregelt. 

    Zu erleben, dass Menschen grundsätzlich nicht in Eile sind, sondern Pausen und Siesta zum Alltag gehören, hat mich überrascht, verwundert und teilweise irritiert. Dass Meetings wie nebenbei in Cafés und einfach draußen stattfinden und nicht in Büros und geschlossenen Räumen, ist sicher deutlich einfacher, wenn das Wetter stabil warm ist und die Sonne zuverlässig scheint. Macht aber etwas mit Menschen und so auch mit mir.

    Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt, ob Menschen, Teams und Unternehmen bei dem Tempo effizient, erfolgreich und kostendeckend arbeiten können. Die Frage kann ich noch nicht abschließend beantworten. Dafür habe ich bisher noch nicht genug erlebt und gesehen. Zumindest für den Großraum Pipa scheint es zu funktionieren.

    Was ich aber tatsächlich beeindruckend finde, ist, insgesamt mit welch positiver Energie und Freundlichkeit mir Menschen begegnen und einer klaren Grundhaltung mit dem Fokus aufs Leben, dem Spaß und Genuss, verbunden mit einer ausgeglichenen Balance zwischen Arbeit und Erholung. 

    Welchen Anteil daran das Klima hat, kann ich nur erahnen. Was ich trotzdem mitnehmen möchte, ist das entspannte Mindset, ohne schlechtes Gewissen und dem Druck, mehr zu leisten, als mein Körper und Geist gerade vermag. Denn ich weiß es und wir wissen es alle – Erholung ist grundlegend für unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit. 
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  • Aber in Deutschland können wir uns oft nicht erholen. Egal wen ich frage: Wie geht’s dir? Mehrheitlich bekomme ich Antworten wie: „Ich bin so müde in letzter Zeit.“ (wobei die letzte Zeit oft schon Jahre meint) „Ist alles so viel grad.“, „Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht.“, „Ich bin so durch und möchte eigentlich alles hinschmeißen.“ „Die Welt ist so am Ende und durch die vielen täglichen bad news mag ich manchmal morgens gar nicht mehr aufstehen.“ usw.

    Findest du dich da wieder? Hast du auch das Gefühl, dass sich die Welt immer schneller dreht und du dich in einem Strudel fühlst, dem du scheinbar nicht entkommen kannst und der keine spürbare Erholung mehr möglich macht?
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  • Wovor haben wir Angst? Warum fällt es uns so schwer, uns die Erholung zu erlauben, die wir dringend brauchen? Die Antwort liegt tief in unserer Sozialisation, unseren Glaubenssätzen und familiären und kulturellen Prägungen.

    Das Leben in Brasilien, die Beobachtung, wie Menschen hier leben und arbeiten, aber vor allem leben, hat mir mal wieder ein Stück weit die Augen geöffnet, wie groß der Einfluss unser Umwelt, Kultur, Erziehung etc. auf unser Fühlen, Denken und Handeln ist und wie sehr diese Prägungen in unserem Nervensystem verankert sind. Und dass es auch anders geht.

    Ich habe mal versucht, die wichtigsten Mechanismen und Gründe zusammen zu tragen. Vermutlich sind es mehr. Gib mir gern Feedback, wenn du die Liste erweitern kannst.
  • Leistungsorientierte Glaubenssätze

    Von klein auf lernen wir, dass Erfolg mit Fleiß und harter Arbeit verbunden ist. „Ohne Fleiß kein Preis“, „Nur wer hart arbeitet, erreicht etwas im Leben“, „Wohlstand kommt nicht von allein“ – diese und ähnliche Sätze kennen die meisten von uns und sie haben sich tief in unsere Denkmuster und Körper eingeprägt. Auch wenn wir glauben, wir sind kognitiv darüber hinweg. Sie sitzen tief und halten unser Nervensystem auf Trab.

    Für Führungskräfte und Entscheidungsträger verstärkt sich dieser Druck zusätzlich: Sie tragen Verantwortung, haben hohe Ansprüche an sich selbst und fühlen sich oft verpflichtet, immer verfügbar zu sein. Der Gedanke, sich auszuruhen, kann sich dann wie Schwäche oder Versagen anfühlen.
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  • Ängste

    Hinter vielen bewussten und unbewussten Entscheidungen stecken unsere Ängste. Existenzängste, Ängste, nicht zu genügen und ausgestoßen zu werden.

    Wenn ich das und das jetzt nicht mache, bin ich nicht fleißig und werde nicht mehr geliebt. Wenn ich nicht ständig zur Verfügung stehe, gelte ich vielleicht als unzuverlässig, verliere meinen Job und riskiere, dass meine Existenz zerstört wird.

    Ängste sind unser kollegiales, altes Erbgut, aus Zeiten, in denen unser Überleben davon abhing, Teil einer Gruppe zu sein. 

    Die Macht unserer Emotionen, insbesondere auch unserer Ängste, ist auch heute noch so groß, dass wir uns dem schwer entziehen können, um andere, bessere Entscheidungen zu treffen.
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  • Kulturelle Prägungen

    Die Bedeutung von Arbeit und Erholung variiert stark je nach Kultur. In Deutschland gibt es eine hohe Arbeitsmoral, die stark mit Fleiß, Ausdauer und Effizienz verbunden ist. Der Begriff „Freizeitstress“ ist weit verbreitet – denn auch unsere Pausen und Urlaube müssen effizient genutzt werden. In anderen Kulturen, etwa in südeuropäischen oder südamerikanischen Ländern, sind Pausen und Siestas gesellschaftlich akzeptiert.

    Wer in einer Kultur aufgewachsen ist, die Leistung als höchsten Wert betrachtet, muss sich aktiv erlauben, gegen diese Prägung anzugehen und Erholung als notwendigen Bestandteil des Erfolgs zu sehen. Das erfordert viel Kraft und braucht lange, bis es in unserem Nervensystem angekommen ist.
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  • Sozialisation und familiäre Vorbelastungen

    Viele von uns haben in ihren Familien früh gelernt, dass Erholung zweitrangig oder gar verboten ist. Vielleicht wuchsen wir in Haushalten auf, in denen ständige Aktivität und Produktivität bewundert, gefordert und gefördert wurden. Eltern, die selbst nie Pausen gemacht haben, geben oft unbewusst diese Haltung weiter. Auch familiäre Verantwortung – etwa für pflegebedürftige Angehörige – kann zu einem tief verankerten Pflichtgefühl führen, das uns daran hindert, uns selbst Auszeiten zu gönnen.
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  • Mental Load – der unsichtbare Druck

    Besonders Führungskräfte, aber auch Menschen mit Care-Verantwortung (darunter besonders viele Frauen mit Kindern), erleben eine hohe kognitive Belastung, den sogenannten Mental Load. Der Kopf ist ständig mit To-Do-Listen gefüllt: Termine, Mitarbeiterführung, strategische Entscheidungen, Einkäufe, Haushalt, Hausaufgaben – oft bleibt kein mentaler Raum für echte Erholung. Selbst wenn wir körperlich ruhen, läuft der Geist weiter auf Hochtouren. Diese gedankliche Daueraktivität erschwert es, wirklich abzuschalten und sich zu regenerieren.
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  • Die Angst vor Kontrollverlust

    Viele von uns haben das Gefühl, dass alles zusammenbricht, wenn sie sich eine Pause gönnen. Besonders in Führungspositionen kommt die Angst hinzu, nicht mehr den Überblick zu behalten oder als weniger engagiert wahrgenommen zu werden. In einer Gesellschaft, die Dauererreichbarkeit oft mit Erfolg gleichsetzt, ist es eine bewusste Entscheidung, sich abzugrenzen und Pausen als Teil einer nachhaltigen Leistungsstrategie zu betrachten.
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  • Stress als Statussymbol

    In vielen Unternehmen und Führungskreisen hat sich eine problematische Kultur etabliert: Wer überlastet ist, gilt als wichtig, fleißig und unersetzbar. „Ich habe keine Zeit“ wird oft mit hoher Bedeutung assoziiert. Wer sich aktiv Pausen nimmt, könnte als weniger ambitioniert erscheinen. Dieser Druck sorgt dafür, dass sich viele Menschen überarbeiten, anstatt bewusst für Regeneration zu sorgen.
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  • Wie wir lernen, Erholung zuzulassen

    Glaubenssätze hinterfragen
    Wer sich ertappt, Pausen mit Faulheit und Ineffizienz gleichzusetzen, sollte diesen Gedanken bewusst reflektieren. Erfolg braucht Erholung.

    Neue Rituale schaffen
    Kurze und lange bewusste Pausen, Auszeiten, Urlaube im Arbeitsalltag und Leben einbauen, ohne sie zu „optimieren“.

    Sich Vorbilder suchen
    (Führungs)persönlichkeiten, die selbst für ihre Balance sorgen, machen es leichter, neue Verhaltensweisen zu übernehmen.

    Bewusst Grenzen setzen
    Nicht jede E-Mail muss sofort beantwortet, nicht jeder Termin angenommen werden.

    Sich selbst und das eigene Erholungsbedürfnis akzeptieren
    Jeder Mensch hat ein anderes Bedürfnis nach Erholung, das sich auch im Laufe des Lebens verändert. Sich selbst und sein Erholungsbedürfnis zu akzeptieren und sich dafür nicht zu verurteilen ist vielleicht der wichtigste Gamechanger
  • ​Erholung als Teil der Leistungsfähigkeit begreifen

    Wir brauchen ein kulturelles und gesellschaftliches Umdenken: Erholung ist kein Luxus, sondern eine strategische Notwendigkeit. Wer langfristig leistungsfähig, gesund und inspiriert bleiben will, muss Erholung nicht nur zulassen, sondern aktiv priorisieren. Führung beginnt mit Selbstführung – und dazu gehört auch die Fähigkeit, sich bewusst zu regenerieren.

    Was verhindert bei dir Erholung und welche hilfreichen Erfahrungen hast du im Laufe deines Lebens gemacht? Was hat dich inspiriert und geholfen?